Thomas Kleine Welt

 

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Die Mitgeschleppten im Badezimmer
von Max Goldt (in Titanic, April 1996)
erschienen in:
Max Goldt "Ä", Haffmans Verlag Zürich, 1997

Max Goldt - Ä Gäste haben! Gäste zu haben ist ein Jumbo-Plaisir, doch will beachtet werden, wie die Gastlichkeit zu bewerkstelligen sei. Ich weiss nicht mehr genau, ob es Immanuel Kant oder Uwe Seeler war, der einmal bemerkte, wenn man Gäste zu sich bittet, solle deren Anzahl diejenige der Grazien, also drei, nicht unter-, und diejenige der Musen, neun, nicht überschreiten. Ich halte mich an diese Regel, denn wenn man nur zwei Personen einlädt, ist man ja insgesamt nur zu dritt, und zu dritt ist man ja schon, wenn man zu zweit ist und der Heizkörperableser klingelt. Bittet man aber zu viele Gäste zu sich, weiss man gar nicht, wie die alle heissen. Auf jeden Fall muss man den Gästen beizeiten einbleuen, dass sie auf gar keinen Fall jemanden mitbringen dürfen! Sonst hat man ein oder zwei Stunden lang die Wohnung voll mit Gestalten, die man überhaupt nicht kennt und auch nicht kennenlernen wird, die dafür aber um so ungehemmter in die byzantinischen Bodenvasen aschen, und wenn dann um zwölf die Getränke alle sind, setzt ein grosses Woandershin Walking ein, und schliesslich sitzt man da mit ein paar trüben Tassen, für die man später Luftmatratzen aufpusten darf. Nein, die Gäste müssen sorgsam aufeinander abgestimmt werden wie die Aromen in einem Parfum; ein einziger Mitgeschleppter kann wie ein einzelner Gallenröhrling in einem Steinpilzgericht wirken und alles verderben.

Nun ist es 20 Uhr, und die Gäste tun das, was nur Gäste können, nämlich eintrudeln. Hat man je davon gehört, dass Arbeiter in der Fabrik eintrudeln oder Fussballspieler auf dem Spielfeld? Sind die Deutschen anno '39 in Polen eingetrudelt? Nein, eintrudeln ist gästespezifisches Ankunftsverhalten. Zuerst nötigt man die Besucher, in rascher Abfolge zwei oder drei Manhattans oder Old Fashioneds zu trinken, damit sie nicht wie dösige Ölgötzen bräsig in der Sitzschnecke abhängen. Gästezungen wollen wachgekitzelt werden. Nun mag es sein, dass die Menschen von des Tages Knechtungen mattgepaukt sind und trotz der munterlaunigen Drinks nicht in Schwätzchenstimmung kommen. Für diesen Fall sollte man stets einige Gegenstände zum Zeigen haben, denn Gäste, denen man etwas zeigt, müssen wohl oder übel das Maul aufkriegen zwecks Kommentar. Da trifft es sich gut, wenn man gerade eine wertvolle Gesamtausgabe der Werke Rainer Barzels oder ein Prunkschwert aus dem Hindukusch gekauft hat. Es muss aber gar nicht unbedingt so etwas Grossartiges sein, oft reicht schon eine repräsentative Blumenkohlhaube, ein Mardergerippe oder ein vom Mittelmeer mitgebrachter Badeschwamm, um die Konversation zum Moussieren zu bringen.
   Nun darf man sich aber nicht pathetisch vor den Gästen aufbauen und den Schwamm angeberisch hochhalten wie Hamlet den Totenschädel, sondern man muss allen Anwesenden mit viel Einfühlungsvermögen das Gefühl vermitteln, dass das jetzt nicht irgendein wildfremder, anonymer Schwamm ist, der ihnen da wortgewandt präsentiert wird, sondern dass es auch, zumindest vorübergehend, "ihr" Schwamm ist. Man muss die Gäste teilhaben lassen an den durch den Schwamm ausgelösten emotionalen Updrifts. Dies erreicht man, indem man Nähe ermöglicht, Betatschungen zulässt, den Gästen also erlaubt, den Schwamm zu betatschen. Man muss sie bitten, die Augen zu schliessen und sich vorzukommen wie ein blindes, blondes Mädchen in einem Blindentastgarten, wodurch bedauerlicherweise die Frage aufgeworfen wird, ob auch Blinde Blondinenwitze machen, und wenn ja, dann gäbe es in solchen Witzen vielleicht Blondentastgärten, in denen lauter dornige Sträucher stehen, und die blinden Blondinen schreien immer "Aua, Aua". Doch zurück zum Schwamm. Man kann ihn kreisen lassen im Gästerund, von rechts nach links, jeder darf "ihn" zwei Minuten halten, gleichzeitig kann man von links nach rechts das Mardergerippe herumgehen lassen. Da kann es passieren, dass der in der Mitte sitzende Besucher beides hat, Schwamm und Gerippe, und man glaube mir, es wäre ein lausiger Gastgeber, wer dies nicht zur Gelegenheit nähme, bleichesten Gesichtes zu verkünden, dass man in der Ukraine glaube, einer, der in der einen Hand einen Schwamm halte und in der anderen ein Mardergerippe, dessen Namenszug im Buch des Lebens werde bald verdorren. Nach einiger Zeit ist es allerdings geboten, zu erwähnen, dass nichts Ernstes zu befürchten sei, dass man nur gerade ein wenig geistreich habe erscheinen wollen. Man sieht hieran, wie kinderleicht es ist, seinen Gästen Kaiserstunden der Geselligkeit zu bieten. Nach den ersten Cocktails wird bald eine erste Stimme erdröhnen, die ankündigt, der Toilette einen Besuch abzustatten. Da ist zu hoffen, dass man das Bad gut gewichst, gewienert und poliert hat, wie überhaupt die ganze Wohnung, denn wenn man das nicht tut, ist ja kein Platz für den neuen Schmutz, den einem die Gäste in die Bude schleppen mit ihren verdammten Drecklatschen. Gerade jüngere Menschen, die darauf erpicht sind, sich eine gut besonnte gesellschaftliche Position zu erstreiten, sollten wissen, dass die Reputation im Badezimmer mitgebacken wird. Man mache sich doch nichts vor: Fast jeder, der in einer fremden Wohnung aufs Klo geht, macht das Badezimmerschränkchen auf und guckt, was da drin ist. Und wenn da zig Medikamente gegen Depressionen, Inkontinenz, Pilzbefall und Impotenz drin sind, dann nimmt der Gast seine Menschenbewertungsskala und schiebt einen nach unten. Deswegen: Solche Sachen immer schön verstecken. Die Menschen sind dünkelhaft und gierig danach, Schulnoten zu verteilen. Zeitschriften und Talkshows haben die halbe Menschheit in dumpfe kleine Hobbypsychologen verwandelt. Legt einer seinen Zeigefinger zwischen die Lippen, dann wird allen Ernstes geglaubt, das bedeute irgendwas. Und wenn jemand im Bad eine sogenannte Badezimmergarnitur hat, lautet das Urteil der Jury "proll". Eine hundertprozentige Fehldeutung liegt hier indes nicht vor: Eine Klodeckelbespannung aus altrosa oder türkisem Frottee mit passender Badezimmermatte und Klofussumpuschelung lässt weder humanistische Bildung noch Adel erahnen. Doch muss man differenzieren: Die vor der Wanne liegende Matte mindert das Risiko feuchtfüssigen Ausgleitens, des leidigen "Pardauz, Tatü-Tata, Friedhof". Aber warum müssen Toiletten umpuschelt werden?

Ich muss jetzt leider etwas Hartes äussern. Ich habe in meinem Leben so manche resttröpfchengetränkte Toilettenumpuschelung sehen müssen, und immer hiess mich der Takt zu schweigen. Doch nun muss das Harte aus mir raus, und ich sage: Reströpfchengetränkte Klofussumpuschelungen sind nicht sehr hübsch. Obendrein sind, wenn man sie spitzen Fingers umdreht, immer Haare darunter und erinnern an der Maden Vielzahl, die einem ins Auge springt, wenn man auf einem Spaziergang mit dem Stock einen toten Vogel umdreht. Ich habe nichts gegen Haare an sich. Wenn sie gut sitzen, bilden sie nützliche natürliche Mützen, die uns vor vorwitzigen Blicken und Blitzen schützen. Man kann auch gut in ihnen wuscheln, falls einem das erlaubt wird von dem, wo die Haare drauf wachsen. Aber die Sorte Haare, wie man sie unter Umpuschelungen antrifft, wird sich kaum einer gern in den Frühlingsquark rühren. Nicht auszuschliessen ist, dass es Lesefröschchen gibt, die eine syphige Umpuschelung ihr eigen nennen und jetzt aufgrund meiner rauhbeinigen Worte bittere Tränen vergiessen, Tränen, die bitterer sind als die bitteren Tränen der Petra von Kant. Diese Perspektive knickt mich. Zum Trost sag ich den Fröschchen: Stellen Sie sich doch mal vor, jetzt kommt der Mensch, den Sie am meisten liebhaben, in Ihr Zimmer und sieht Sie weinen. Natürlich möchte er Ihnen die Tränen fortwischen, aber er findet kein Taschentuch und nähert sich Ihren blaugeweinten Wangen mit Ihrer Kloumpuschelung. Da würden Sie doch auch zurückweichen, gell?

Die Gäste sind nun abgezischt. Das ganze Wohnzimmer voll mit benutzten Einwegspritzen, Kondomen, geplatzten Gummipuppen, blutigen Peitschen, kotbeschmierten Dildos und zertretenen Mardergerippen! Ich übertreibe natürlich ein wenig. In Wirklichkeit ist der Salon nur leicht krümelübersät. Doch Grund genug zu sagen: "Nie wieder Gäste! Das nächste Mal treffe ich mich lieber wieder wie dereinst mit meinen alten Existenzkomplizen, nennen wir sie mal spasseshalber Bruno, Ewald und Hugo, am schrammigen Holztisch im Wirtshaus zum knallgrünen Huhn."
   "Hallo Hugo, hallo Ewald, hallo Bruno!" tönt es daher bald durch die Gasse. Doch da ist ja noch wer. Ächz, ein Persönchen. "Das ist Claudia", sagt Ewald im Ton verkrampfter Lockerheit, und ein kurzer Blick von ihm erzählt die ganze fade Story. Dass sie den ganze Tag rumgenölt habe wegen heute abend, dass er dann gesagt habe: "Komm doch einfach mit!", worauf die gesagt habe: "Ihr wollt ja nur wieder Bier saufen!", dass sie dann mit ihrer Schwester telephoniert, daraufhin geweint, dann Bauchweh bekommen und sich in letzter Minute doch entschieden habe, mitzukommen.

"Vier Hefeweizen und eine kleine Sprite!"
"Wieviel trinkt ihr denn davon, wenn ihr euch trefft?" fragt die Mitgebrachte. "Och, so vier oder fünf sind das schon." wird geantwortet. "Fünfrnal 5 Mark 50, das sind ja 27 Mark 50 für jeden. Also, ich muss von elfhundert Mark im Monat leben bei 680 Mark kalt, ihr ja offenbar nicht", bemerkt die Stimmungskanone, worauf sie ihren von einem widerwärtigen roten Samtding zusammengehaltenen Pferdeschwanz öffnet und das widerwärtige rote Samtding mitten auf den Tisch legt. Ihre weiteren Gesprächsbeiträge lauten: "Kannst du deinen Rauch nicht mal in eine andere Richtung blasen?" und "Was bist du eigentlich für ein Sternzeichen?" Irgendwann fängt sie an zu heulen, weil der Hund ihrer Schwester vorige Woche gestorben ist, und um halb elf stellt sie fest, dass es schon halb elf sei, und Ewald ganz furchtbar müde aussehe, worauf sie sich denselben krallt und zum Abschied in scherzhaft ironischem Ton meint, dass sie hoffe, uns nicht den Abend verdorben zu haben. "Aber nein", sagen wir und meinen das auch sehr ironisch.

Bruno sagt: "Die tollsten Frauen laufen auf der Strasse herum, aber die besten Freunde, die man hat, geraten immer an solche missgünstigen Ranzteile." Hugo weiss noch mehr: "Unseren Ewald sehen wir so bald nicht wieder. Der wird für Jahre in der Ranzschnecke verschwinden. Besuchen ist auch nicht drin. Sie würde es ihm selbstverständlich erlauben, aber wenn wir dann mal kämen, würde sie mit einer Wolldecke auf dem Sofa liegen und die Bürde unserer Anwesenheit als qualvoll lächelnde Märtyrerin geduldig ertragen. Sollte unser Gespräch trotz allem mal ein bisschen in Fahrt kommen, dann würde es bald unter der Wolldecke hervortönen: 'Ewald, ich hab so kalte Hände. Kannst du sie mir nicht ein bisschen warmrubbeln?' oder 'Ich will euch nicht hetzen, aber kannst du mir sagen, wie lange ihr ungefähr noch braucht? Nur ganz ungefähr.' Und dann dieser übertriebene Fruchtgestank überall von diesen Produkten aus dem Body Shop." lch weiss zu ergänzen: "Sie wird ihn zuschleimen mit Elton-John-Songs und Astrologie, wird ihn einspinnen in einen Kokon aus esoterischem Wirrwarr und hausfraulichem Quatsch, wird die ganze Bude vollstellen mit Schälchen, in denen kleine Perlen sind und verstaubte Blumenblätter und die widerwärtigen Samtdinger für den Pferdeschwanz, und bald wird er auch einen Pferdeschwanz haben, zusammengehalten von der männlichen Variante, einem widerwärtigen Frotteeding."

Aus Sorge um den armen Ewald trinken Hugo, Bruno und ich noch ganz viel, machen sogar noch ein Woandershin Walking. Bruno meint dann in dem Absturzladen, die Menschen werden von ihrem Vornamen geprägt, es gebe z. B. regelrechte Manfred- oder Christoph-Typen. ln Frankreich sei sogar ein Buch zu diesem Thema auf dem Markt. Tatsache sei, dass mindestens 50% aller blöden Freundinnen von netten Freunden Claudia heissen, das sei ein richtiger Migränetantenname. Bei blöden Lebenspartnern von netten Freundinnen sei die Bandbreite viel grösser, die heissen Jens, Clemens, Oliver, Torsten und Tobias. Nur Ewald, Hugo und so weiter heissen die nie, denn die sind nett, und es folgt ein endloses Gebrabbel, welches meine Meinung bestätigt, dass dem Phänomen des trunkenen Woandershin-Walking prinzipiell kritisch gegenüberzustehen ist und dass das meiste, was nach zwei Uhr am Morgen passiert und gesprochen wird, ohne Reu vergessen werden kann.