stories:

VELOSHOPPING
- BERICHT EINES BETROFFENEN -
Dieses Werk ist all jenen gewidmet, die
bei der Eindeckung ihres täglichen Bedarfes mit
dem Fahrrad unterwegs sind.
Alle misstrauischen Zeitgenossen, die nicht alles glauben,
was man ihnen erzählt, möchte ich darauf hinweisen,
dass sich tatsächlich nicht alles so zugetragen
hat, wie es im Folgenden geschildert wird. Der Leser
ist somit gehalten, zwischen unglaublichen und unmöglichen
Tatbeständen zu unterscheiden. Während die
unglaublichen Teile der Geschichte allesamt wahr sind,
sind die unmöglichen teilweise übertrieben.
Als erklärtem Umweltschützer
würde es mir nie einfallen, mit einem Auto oder
gar Lastwagen einkaufen zu gehen. Deshalb möchte
ich an dieser Stelle einige fahrradspezifische Probleme
beim Einkaufen vorstellen.
Ein beliebtes Auslösemoment für einen Einkauf
ist ein gähnend leerer Kühlschrank in Verbindung
mit einem ebenso leeren Magen. Neuere Untersuchungen
in der Verhaltensforschung haben gezeigt, dass dies
die günstigsten Voraussetzungen für einen
unverfälschten Kaufrausch sind, der sich in der
Regel als genauso teuer, wenn nicht sogar teurer herausstellt,
wie ein konventioneller Drogengenuss.
Es ist so weit, und ich schwinge
mich auf mein Fahrrad, welches heute ausnahmsweise keinen
Platten hat. Da die Dunkelheit noch nicht eingebrochen
ist - was gäbe es um diese Zeit auch zu stehlen?
- stört es nicht weiter, dass das Licht nicht funktioniert.
Stünde lediglich ein Klein- oder Mitteleinkauf
auf dem Programm, wäre ein Besuch des EDEKA-Marktes
um die Ecke empfehlenswert. Die dortige Kassiererin
hat sich anscheinend hoffnungslos in mich verliebt und
der Kassenbon weist regelmässig nur achtzig Prozent
der eigentlichen Kaufsumme aus. (Diejenigen, die ausschliesslich
am Sex interessiert sind, können nach diesem erotischen
Zwischenspiel die Lektüre beenden)
Bei einem Grosseinkauf ist dieses Vorgehen
jedoch riskant, da in diesem Fall der Preiseffekt der
überteuerten Preise den Sympathieeffekt der Kassiererin
überwiegen kann. Ich fahre also zum Supermarkt,
und meine Freude über den sofort gefundenen Parkplatz
ist auch schon der einzige Moment, in dem ich eine gewisse
Überlegenheit gegenüber den Autofahrern verspüre.
Ich betrete den Laden und finde sofort meinen
Lieblingseinkaufwagen. Das rechte Vorderrad hat keinen
Kontakt zum Boden und dreht sich wie eine Kompassnadel
in einem starken Magnetfeld. Dafür drehen sich
die hinteren Räder überhaupt nicht, was das
Lenken nicht erleichtert. Beim Schieben gibt der Wagen
Laute von sich, die dem Lockruf eines Haubentauchers
zum Verwechseln ähnlich klingen.
Schnell habe ich meinen sich lauthals beschwerenden
Wagen beladen und überschlage im Kopf den zu erwartenden
Kaufpreis. Natürlich habe ich bei weitem nicht
genug Geld dabei und beschliesse, die nicht lebensnotwendigen
Güter wieder ins Regal zurückzustellen. Als
erstes sortiere ich vier Büchsen Brechbohnen aus,
die mir ohnehin nicht schmecken, und von denen ich nicht
weiss, wie sie in meinen Wagen gekommen sind. Zudem
trenne ich mich von vier Packungen TEMPO-Taschentüchern
und zwei Schachteln Damenbinden.
Gerade will ich noch einige Tüten Chips
zurücklegen, sechs Tüten müssten vorläufig
genügen, da meint hinter mir eine Frau, deren Stimme
ungefähr so angenehm klingt wie das Kreischen eines
anhaltenden Zuges, was ich an ihrem Wagen zu schaffen
hätte. Ich drehe mich um, und blicke in die Augen
eines Traums in Violett. Es ist allerdings höchstens
ein Traum für Horrorfreunde, und so blocke ich
die sich anbahnende Freundschaft ab, indem ich das Weite
und meinen Haubentaucher suche.
Ich finde ihn, und er beschwert sich, dass
er mich bei GREENPEACE anzeigen werde, wegen fortwährender
Vernachlässigung. Ich schweige zu den Vorwürfen
und stelle mich an der Kasse an. Es ist nur eine Kasse
geöffnet, an der bereits zwölf Leute darauf
warten, ihre neuen Besitztümer bezahlen zu dürfen.
Auf der anderen Seite erübrigt sich so die Minimierung
der Wartezeit durch eine halbstündige Hochrechnung
der geladenen Bruttoregistertonnen multipliziert mit
einem Schnelligkeitsfaktor für die Kassiererin
und die an der entsprechenden Kasse anstehenden Kunden.
Während ich in der Kubikmeterschätzung
ganz gut bin, habe ich bei den Schnelligkeitsfaktoren
regelmässig bedauerliche Fehlkalkulationen zu beklagen.
So macht selbst die schnellste und sicherste Kassiererin
am laufenden Band Tippfehler, sobald ich an der Kasse
anstehe. Die schwersten Schicksalsschläge harren
jedoch meiner in Form der vor mir stehenden Kunden.
Ich unterscheide bei diesen Zeitfressern drei Typen:
Typ I fällt dadurch auf, dass er der
Kassiererin vorwirft, sich vertippt zu haben, und dass
die Endsumme viel zu hoch und überhaupt nicht möglich
sei. Bei der Überprüfung stellt sich dann
tatsächlich heraus, dass die Kassiererin vergessen
hat 89 Pfennig einzutippen, was sie dann dankend nachholt.
Typ II macht regelmässig an Supermarktkassen
eine Kleingeldbestandaufnahme. Den Preis von DM 16,89
versuchen sie möglichst nur unter Verwendung von
1-Pfennig- bis 50-Pfennig-Stücken zu begleichen.
Im Schnitt scheitert dieser Typ bei DM 15,27, und holt
dann mit einem unwiderstehlichen Lächeln einen
funkelnagelneuen Zwanzigmarkschein aus dem Seitenfach
seines Geldbeutels.
Typ III gleicht Typ II, allerdings mit dem
Unterschied, dass er keinen Zwanzigmarkschein mehr in
seinem Geldbeutel hat. Das führt dann zu zeitraubenden
Überlegungen, welches der kostbaren Stücke
man entbehren könnte.
Eine andere Tatsache, die mich immer wieder
erschüttert, ist, dass wenn ich endlich an der
Reihe bin, und die Kassiererin nur noch eine neue Kassenstrippe
einlegen muss, sowie eine Rolle Zehnpfennigstücke
aus dem hinteren Teil des Ladens holen geht, dass just
in diesem Moment die Nebenkasse geöffnet wird.
Was mich für die anderen Kunden freut.
Ich stelle mich also an, und
überstehe ohne Nervenzusammenbruch einen Typ I
und einen Typ III. Ich habe mich gerade an die sechste
Stelle vorgearbeitet, als ein Mann mittleren Alters
meinen Haubentaucher von der Seite mit seinem Wagen
rammt, sodass der mit einem erschreckten Aufkreischen
in das nächste Regal schliddert. Dabei verabschiedet
sich ein Glas mit Möhren und Erbsen aus meinem
Einkaufswagen und geht mit dem Laut einer aufplatzenden
Bratwurst zu Boden. Die Erbsen nutzen die neu gewonnene
Freiheit gleich aus und verteilen sich strategisch geschickt
im ganzen Laden.
Ich drehe mich um und sehe ein Gesicht,
von dem ich wünsche, ich hätte es nicht gesehen.
Ich reisse mich zusammen und möchte gerade seine
Entschuldigung mit dem Hinweis, es sei ja nicht viel
passiert, abwehren, da sagt dieses Monster zu mir:
- Neger müssen sich HINTEN anstellen!
Ich weise ihn darauf hin, dass ich doch gar kein Neger
sei, was er mit der Bemerkung wegwischt, ich könnte
gerade so gut einer sein. Da ich selber nichts gegen
Neger habe, und dem Ansehen der schwarzen Rasse nicht
weiter schaden will, entschuldige ich mich höflich
und stelle mich am hinteren Ende der Warteschlange an.
Aber endlich habe ich es ohne weitere Zwischenfälle
geschafft (Typ II und Typ I), das Glas mit den Erbsen
muss ich natürlich bezahlen.
Nun beginnt der anstrengende Teil des Veloshoppings,
der Transport der neuen Errungenschaften nach Hause.
Ich habe drei Formen von Transportproblemen analysiert,
die ich als Milchtüten-, Sprudelkisten- und Plastiktütensyndrom
bezeichne.
Das Milchtütensyndrom tritt beim Transport von zwölf Tüten Milch, Apfel- oder Orangensaft etc. auf. Der mitgelieferte flache Karton hält die zwölf Liter nur notdürftig zusammen. Das Problem beginnt, wenn der 40 cm lange Karton auf den nur 15 cm breiten Gepäckträger eines Fahrrades gestellt wird.
Die dabei auftretenden physikalischen Kräfte lassen sich wie folgt darstellen.

Dabei ist F1 die Gewichtskraft der Milchtüten,
F2 die Spannkraft des Kartons und F3 die Kohäsions-
bzw. Haftkraft der Milchtüten untereinander.
Um einen Transport sinnvoll zu gestalten, muss jederzeit
gelten:
Gew.kraft < Spannkraft
+
Koh.kraft (I)
Die Kartons sind tatsächlich so konstruiert,
dass diese Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist.
Was die Konstrukteure jedoch nicht berücksichtigt
haben, ist die Tatsache, dass beim Herunterfahren von
einem Bordstein, oder beim Durchqueren eines Schlagloches
eine vorübergehende Beschleunigung der Milchtüten
nach unten stattfindet. Da diese Beschleunigung beim
Landen auf dem Grund des Schlagloches bzw. auf der Strasse
abrupt gestoppt wird, multipliziert sich die Gewichtskraft
der Milchtüten in diesem Augenblick mit einem Beschleunigungsfaktor
b. Auf die Spannkraft und die Kohäsionskraft hat
dieser Vorgang keinen Einfluss, sodass es zu einer vorübergehenden
Umkehrung der Gleichgewichtsbedingung (I) kommen kann.
Es gilt dann:
b x Gew.kraft >Spannkraft
+ Koh.kraft (II)
Das Unangenehme ist, dass selbst ein kurzes
Ungleichgewicht (II) ausreicht, den Pappkarton reissen
zu lassen. Dies erfolgt mit einem unverwechselbaren
Geräusch (phhhhs), gefolgt vom sechsmaligen Aufprallgeräusch
(bfsch) der nun ungesicherten Milchtüten.
Die Spannkraft des Kartons beträgt anschliessend
Null.
Da die Kohäsionskraft alleine die Gewichtskraft
nicht zu neutralisieren vermag, muss man sich eine alternative
Transportmöglichkeit für die heruntergefallenen
Milchtüten einfallen lassen. Das Problem, dass
Milchtüten beim Aufprall platzen ergibt sich zum
Glück nur selten. Auf der anderen Seite bleibt
dadurch das Transportproblem in vollem Umfang bestehen.
Da ich keine Plastiktüte bei mir
habe, versuche ich je einen Liter in meine rechte und
linke Jackentasche zu stecken. Allerdings sind die Milchtüten
zu gross (oder die Jackentaschen zu klein), ausserdem
befinden sich dort bereits eine Tüte mit Wurst,
eine Tüte mit Käse, eine Packung Gummibären
und ein Becher Sauerrahm. Also klemme ich mir die Milchtüten
unter die Arme, wobei allerdings ein Laib Brot und ein
Kopfsalat herunterfallen, die sich dort befanden.
Schliesslich stecke ich zwei Tüten
Milch ins Innere meiner halbgeöffneten Jacke, vier
Tüten klemme ich mir unter den linken Arm und den
Laib Brot unter den rechten Arm.
Mist! Jetzt fehlt noch der Salat!
Mit mittlerer Anstrengung gelingt es mir, ihn beim Brot
unterzubringen. Ich fahre freihändig, schwankend
und meine acht Sachen zusammenhaltend nach Hause, wobei
ich noch zweimal anhalten muss, um eine verlorene Milchtüte
wieder einzusammeln.
Daheim angekommen fällt beim Absteigen
wieder alles herunter und auch die auf dem Gepäckträger
verbliebenen Milchtüten orientieren sich in Richtung
Boden, da sie dort ein Milchtütenfestival vermuten.
Die Hauptsache ist aber, dass ich endlich daheim bin.
Meine Nachbarn haben sich an diesen Anblick auch schon
seit langem gewöhnt.
Beim Sprudelkistensyndrom liegt das Problem darin, eine Sprudelkiste mit der Kantenlänge 40 cm auf der nur 15 mal 30 cm grossen Stellfläche des Gepäckträgers zu sichern.
Grafisch lässt sich der Vorgang so darstellen:

Dabei ist F1 die Gewichtskraft der Sprudelkiste, F2 die Spannkraft des Spanners und F3 eine nicht quantifizierbare, beim Fahren auftretende Rüttelkraft in seitlicher Richtung.
Die maximale Stellfläche R3 mit dem Reibungskoeffizienten r3 wird dabei durch die kleineren Reibungsflächen R2 und R3 mit den Reibungskoeffizienten r2 und r3 ersetzt da erfahrungsgemäss gilt:
Gew.kraft x r3 < Gew.kraft x r1 + Spannkraft x r2 (III)
Für den sicheren Transport der Sprudelkiste muss also jederzeit gelten:
Rüttelkraft < Gew.kraft x r1 + Spannkraft x r2 (IV)
Diese Transportmethode hat auch den Effekt,
dass der Fahrkomfort leidet. Zum einen ist ein Teil
der Sitzfläche durch die überstehende Sprudelkiste
versperrt, zum anderen muss die Sprudelkiste immer wieder
mit mindestens einer Hand gesichert oder neu ausgerichtet
werden.
Die gleichen Bedingungen gelten im Übrigen
für übergrosse Pappschachteln, die die Firma
ALDI dankenswerterweise hilflosen Kunden wie mir zur
Verfügung stellt, um ihre Waren sicher nach Hause
zu bringen.
Das Plastiktütensyndrom umschreibt den Transportvorgang einer gefüllten, an der Lenkstange eines Fahrrades angebrachten Plastiktüte - manchmal habe ich tatsächlich eine dabei. Das Problem ist physikalisch nicht quantifizierbar, der Plastiktütenforschung sind jedoch bis heute zwei latente Sollbruchstellen bekannt. Gegen diese Mängel wird bewusst nichts unternommen, da sonst der zukünftige Absatzmarkt für Plastiktüten nicht mehr gesichert wäre:

Die Sollbruchstelle 1 befindet sich am
Henkel der Plastiktüte, es wird vermutet, dass
dieser bei einer Überlastung, schlechtem Wetter
oder in ungünstigen Augenblicken zu reissen beginnt.
Die Sollbruchstelle 2 befindet sich am unteren der Plastiktüte
auf der Seite, wo sie mit den Speichen des sich drehenden
Rades in Berührung kommt.
Anzumerken ist noch, dass bei einseitigem Behängen der Lenkstange mit Plastiktüten das Fahrverhalten des Fahrrades schlechter wird.
MERKSATZ: (V)
Plastiktüten immer gleichmässig auf beide Seiten
des Lenkers verteilen!!!
Heute sieht es ganz nach einem kombinierten
Plastiktüten- und Sprudelkistensysndrom aus. Die
neu erworbenen Waren lassen sich beim besten Willen
nicht im grössten zur Verfügung stehenden,
ursprünglich für sechzig Packungen Salzstangen
vorgesehenen Karton unterbringen. Selbst nach Abzug
der Tomaten, denen die Verkäuferin durch einen
gezielten Wurf mit einer Ravioli-Dose den Garaus gemacht
hat, bleibt noch so viel übrig, dass ich einen
Rest auf drei Plastiktüten verteilen muss.
Ich stelle den Salzstangenkarton auf meinen
Gepäckträger, wo er glücklicherweise
zu bleiben scheint. Die Plastiktüten hänge
ich asymmetrisch an die Lenkstange, wobei ich Merksatz
(V) ignoriere, was auch gleich zur Folge hat, dass die
Lenkstange aus dem Gleichgewicht gerät und einen
Angriff auf meine Weichteile startet. Ich atme tief
durch, besteige das Rad und fahre los. Eine Passantin
fragt mich verwundert, ob ich so schwer beladen auch
sicher nach Hause käme. Ich entgegne ihr mit einem
überlegenen Lächeln, dass ich da schon ganz
andere Sachen gedeichselt hätte.
So fahre ich vom Parkplatz
und übersehe prompt ein Auto, dass sich von rechts
nähert. Dank meiner Reaktionsschnelligkeit kann
ich gerade noch anhalten, vergesse dabei aber den Karton
auf meinem Gepäckträger zu sichern, sodass
jener diesen verlässt und zu Boden fällt.
Ich stelle mein Fahrrad an den Strassenrand und begutachte
den Schaden.
Ein Glas Honig ist zu Bruch gegangen, was
eine vollständige Schadensbeseitigung im Vorhinein
zum Scheitern verurteilt. Immerhin wird die auf dem
Boden verbleibende zähflüssige Masse bei darüberfahrenden
Autorasern eine Verlangsamung hervorrufen, und so lobe
ich mich innerlich für meinen selbstlosen Schutz
unschuldiger Schulkinder. Die Konservendosen haben mit
ihrer ursprünglichen Form nicht mehr viel gemeinsam,
und schliesslich entdecke ich die Eier, die ich vorsorglich
zuoberst in den Karton gelegt hatte. Durch den Sturz
sind sie zuunterst geraten und ich registriere überrascht,
dass nur drei Eier zu Schaden gekommen sind.
Meine Mutter, die in solchen Dingen ohnehin
kleinlich ist, hat mir einmal vorgeworfen, dass man
mich überhaupt nicht Eier holen zu schicken bräuchte,
weil ich ohnehin keine ganzen Eier mit nach Hause brächte.
Da ich im Widerlegen derartiger Vorwürfe sehr geschickt
bin, habe ich ihr meine Eierkauf-Statistik vorgelegt:
Bei 64 Eierkäufen (n=64) brachte ich
im Durchschnitt sechs ganze Eier mit nach Hause. (|x|
= 6). Die geschätzte Standardabweichung betrug
vier (s=4). Daraus berechnete ich das Vertrauensintervall
für die in 99,9 Prozent aller Fälle zu erwartende
Anzahl der heil daheim ankommenden Eier (E(x)).
Laut BLEYMÜLLER gilt nämlich:

(VI)
Der kritische Wert für t beträgt
bei einer 99,9-prozentigen Sicherheit 3,2.
Das Ergebnis meiner Berechnungen war schliesslich, dass
in 99,9 Prozent aller Fälle zwar nicht mehr als
7,6, jedoch auch nicht weniger als 4,4 heil gebliebene
Eier zu erwarten waren. Meine Mutter teilte meine Freude
über die mindestens zu erwartenden vier ganzen
Eier nicht, obwohl das zum Panieren von fünf Schnitzeln
gut ausreicht.
Wie kann man nur so kleinlich sein.
Diesmal sind jedenfalls nur drei Eier
zu Bruch gegangen und die Joghurt befinden sich zum
Glück sicher in den Plastiktüten an der Lenkstange.
Ich sammle mein Eigentum wieder in den Karton und stelle
diesen zurück auf den Gepäckträger. So
fahre ich heimwärts und geniesse die Stimmung eines
Cowboys, der auf seinem Pferd der Freiheit und neuen
Abenteuern entgegenreitet. Da reisst mich ein verdächtiges
Geräusch aus meinen Träumen. Es ist jedoch
kein Heckenschütze, der mir aus dem Hinterhalt
auflauert, sondern eine Plastiktüte, die in die
Speichen geraten ist. Schon purzeln meine sicher geglaubten
Joghurt aus dem entstandenen Schlupfloch und zu Boden.
Weit kommen sie allerdings nicht.
Zwei Joghurt platzen unmittelbar beim Aufprall auf den
Boden, einem dritten (Erdbeer-Rhabarber) schneide ich
mit einem geschickten Schlenker den Fluchtweg ab und
erlege ihn mit dem Hinterrad. Das hätte ich besser
bleiben lassen, denn nun entzieht sich der Karton auf
dem Gepäckträger meiner Kontrolle und stürzt
in die Tiefe.
So stehe ich mitten auf der Kreuzung, umgeben
von meinem Hab und Gut, sowie einigen herbeigeeilten
Passanten, die sich den Orden RITTER DER LANDSTRASSE
verdienen wollen. Als erstes nimmt mir jemand mein Fahrrad
ab, um es in Sicherheit zu bringen. Andere Herbeigeeilte
helfen mir beim Einsammeln meiner Sachen, wobei sich
herausstellt, dass der Karton für einen Weitertransport
nicht mehr geeignet ist.
Ich versuche gerade den Hilfstrupp zu organisieren,
als sich ein Einsatzwagen der Freiwilligen Feuerwehr
nähert, dem zwölf mit Strahlenanzügen
bekleidete Feuerwehrleute entsteigen. Diese besprühen
die Joghurtflecken mit einem Spezialschaum, wohl in
der Annahme, es handle sich dabei um radioaktives Material.
Ich versuche gerade den Irrtum aufzuklären, da
drängt sich eine Hundertschaft Polizisten durch
die rasch errichteten Absperrungen um nach den Urhebern
dieses offenbar politisch motivierten, terroristischen
Anschlages zu fahnden. Also schweige ich lieber, hinter
den Absperrungen wird eine Würstchenbude, kurz
darauf auch ein Karussell aufgebaut. Drei Fernseh-Teams
treffen ein und beginnen mit den Aufnahmen. Davon habe
ich schon seit langem geträumt, im Moment ist mir
aber nicht nach einem Fernsehauftritt.
Ich wüsste auch gar nicht, was ich sagen soll.
Ich versuche dennoch meine Haare und Gedanken zu ordnen,
da werde ich durch den Ansturm hinter die Absperrung
gedrängt. Dabei verspüre ich einige Hiebe
von Schlagstöcke, zudem zeigt nun das Tränengas
seine Wirkung, und da ich pudelnass bin, waren wohl
auch Wasserwerfer im Einsatz.
Ich betrachte die entstandene Mischung aus
Rummelplatz und Startbahn-West-Demo, mittlerweile haben
sich auch einige Mitglieder der Bhagwan-Sekte eingefunden,
die in ihren lilafarbenen Gewändern lautstark HARE
KRISHNA intonieren und so den Herrn oder das Ende der
Welt preisen. Auch die Scientologen sind anwesend, sie
bieten in den Trümmern des ehemaligen ALDI ihre
Persönlichkeitstests an.
Plötzlich entdecke ich ungefähr fünfzig Meter entfernt, neben einem WACHTURM haltenden Zeugen Jehovas, mein Fahrrad an einer Wand lehnen. Ich begebe mich unauffällig in diese Richtung, wobei mich niemand aufzuhalten scheint. Auch der Jehova-Jünger schaut nur wissend, sagt aber nichts, als ich auf mein Fahrrad steige und losfahre. So entkomme ich ungehindert dem Geschehen und verfolge den Rest vom Tage die Geschehnisse im Fernsehen.
Morgen kaufe ich mir einen Fahrradanhänger.