Thomas Kleine Welt

 

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Veloshopping

VELOSHOPPING
- BERICHT EINES BETROFFENEN -

Dieses Werk ist all jenen gewidmet, die bei der Eindeckung ihres täglichen Bedarfes mit dem Fahrrad unterwegs sind.
Alle misstrauischen Zeitgenossen, die nicht alles glauben, was man ihnen erzählt, möchte ich darauf hinweisen, dass sich tatsächlich nicht alles so zugetragen hat, wie es im Folgenden geschildert wird. Der Leser ist somit gehalten, zwischen unglaublichen und unmöglichen Tatbeständen zu unterscheiden. Während die unglaublichen Teile der Geschichte allesamt wahr sind, sind die unmöglichen teilweise übertrieben.

Als erklärtem Umweltschützer würde es mir nie einfallen, mit einem Auto oder gar Lastwagen einkaufen zu gehen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einige fahrradspezifische Probleme beim Einkaufen vorstellen.
Ein beliebtes Auslösemoment für einen Einkauf ist ein gähnend leerer Kühlschrank in Verbindung mit einem ebenso leeren Magen. Neuere Untersuchungen in der Verhaltensforschung haben gezeigt, dass dies die günstigsten Voraussetzungen für einen unverfälschten Kaufrausch sind, der sich in der Regel als genauso teuer, wenn nicht sogar teurer herausstellt, wie ein konventioneller Drogengenuss.

  Es ist so weit, und ich schwinge mich auf mein Fahrrad, welches heute ausnahmsweise keinen Platten hat. Da die Dunkelheit noch nicht eingebrochen ist - was gäbe es um diese Zeit auch zu stehlen? - stört es nicht weiter, dass das Licht nicht funktioniert.
  Stünde lediglich ein Klein- oder Mitteleinkauf auf dem Programm, wäre ein Besuch des EDEKA-Marktes um die Ecke empfehlenswert. Die dortige Kassiererin hat sich anscheinend hoffnungslos in mich verliebt und der Kassenbon weist regelmässig nur achtzig Prozent der eigentlichen Kaufsumme aus. (Diejenigen, die ausschliesslich am Sex interessiert sind, können nach diesem erotischen Zwischenspiel die Lektüre beenden)
  Bei einem Grosseinkauf ist dieses Vorgehen jedoch riskant, da in diesem Fall der Preiseffekt der überteuerten Preise den Sympathieeffekt der Kassiererin überwiegen kann. Ich fahre also zum Supermarkt, und meine Freude über den sofort gefundenen Parkplatz ist auch schon der einzige Moment, in dem ich eine gewisse Überlegenheit gegenüber den Autofahrern verspüre.
  Ich betrete den Laden und finde sofort meinen Lieblingseinkaufwagen. Das rechte Vorderrad hat keinen Kontakt zum Boden und dreht sich wie eine Kompassnadel in einem starken Magnetfeld. Dafür drehen sich die hinteren Räder überhaupt nicht, was das Lenken nicht erleichtert. Beim Schieben gibt der Wagen Laute von sich, die dem Lockruf eines Haubentauchers zum Verwechseln ähnlich klingen.
  Schnell habe ich meinen sich lauthals beschwerenden Wagen beladen und überschlage im Kopf den zu erwartenden Kaufpreis. Natürlich habe ich bei weitem nicht genug Geld dabei und beschliesse, die nicht lebensnotwendigen Güter wieder ins Regal zurückzustellen. Als erstes sortiere ich vier Büchsen Brechbohnen aus, die mir ohnehin nicht schmecken, und von denen ich nicht weiss, wie sie in meinen Wagen gekommen sind. Zudem trenne ich mich von vier Packungen TEMPO-Taschentüchern und zwei Schachteln Damenbinden.
  Gerade will ich noch einige Tüten Chips zurücklegen, sechs Tüten müssten vorläufig genügen, da meint hinter mir eine Frau, deren Stimme ungefähr so angenehm klingt wie das Kreischen eines anhaltenden Zuges, was ich an ihrem Wagen zu schaffen hätte. Ich drehe mich um, und blicke in die Augen eines Traums in Violett. Es ist allerdings höchstens ein Traum für Horrorfreunde, und so blocke ich die sich anbahnende Freundschaft ab, indem ich das Weite und meinen Haubentaucher suche.
  Ich finde ihn, und er beschwert sich, dass er mich bei GREENPEACE anzeigen werde, wegen fortwährender Vernachlässigung. Ich schweige zu den Vorwürfen und stelle mich an der Kasse an. Es ist nur eine Kasse geöffnet, an der bereits zwölf Leute darauf warten, ihre neuen Besitztümer bezahlen zu dürfen. Auf der anderen Seite erübrigt sich so die Minimierung der Wartezeit durch eine halbstündige Hochrechnung der geladenen Bruttoregistertonnen multipliziert mit einem Schnelligkeitsfaktor für die Kassiererin und die an der entsprechenden Kasse anstehenden Kunden.

  Während ich in der Kubikmeterschätzung ganz gut bin, habe ich bei den Schnelligkeitsfaktoren regelmässig bedauerliche Fehlkalkulationen zu beklagen. So macht selbst die schnellste und sicherste Kassiererin am laufenden Band Tippfehler, sobald ich an der Kasse anstehe. Die schwersten Schicksalsschläge harren jedoch meiner in Form der vor mir stehenden Kunden. Ich unterscheide bei diesen Zeitfressern drei Typen:
  Typ I fällt dadurch auf, dass er der Kassiererin vorwirft, sich vertippt zu haben, und dass die Endsumme viel zu hoch und überhaupt nicht möglich sei. Bei der Überprüfung stellt sich dann tatsächlich heraus, dass die Kassiererin vergessen hat 89 Pfennig einzutippen, was sie dann dankend nachholt.
  Typ II macht regelmässig an Supermarktkassen eine Kleingeldbestandaufnahme. Den Preis von DM 16,89 versuchen sie möglichst nur unter Verwendung von 1-Pfennig- bis 50-Pfennig-Stücken zu begleichen. Im Schnitt scheitert dieser Typ bei DM 15,27, und holt dann mit einem unwiderstehlichen Lächeln einen funkelnagelneuen Zwanzigmarkschein aus dem Seitenfach seines Geldbeutels.
  Typ III gleicht Typ II, allerdings mit dem Unterschied, dass er keinen Zwanzigmarkschein mehr in seinem Geldbeutel hat. Das führt dann zu zeitraubenden Überlegungen, welches der kostbaren Stücke man entbehren könnte.
  Eine andere Tatsache, die mich immer wieder erschüttert, ist, dass wenn ich endlich an der Reihe bin, und die Kassiererin nur noch eine neue Kassenstrippe einlegen muss, sowie eine Rolle Zehnpfennigstücke aus dem hinteren Teil des Ladens holen geht, dass just in diesem Moment die Nebenkasse geöffnet wird.
Was mich für die anderen Kunden freut.

  Ich stelle mich also an, und überstehe ohne Nervenzusammenbruch einen Typ I und einen Typ III. Ich habe mich gerade an die sechste Stelle vorgearbeitet, als ein Mann mittleren Alters meinen Haubentaucher von der Seite mit seinem Wagen rammt, sodass der mit einem erschreckten Aufkreischen in das nächste Regal schliddert. Dabei verabschiedet sich ein Glas mit Möhren und Erbsen aus meinem Einkaufswagen und geht mit dem Laut einer aufplatzenden Bratwurst zu Boden. Die Erbsen nutzen die neu gewonnene Freiheit gleich aus und verteilen sich strategisch geschickt im ganzen Laden.
  Ich drehe mich um und sehe ein Gesicht, von dem ich wünsche, ich hätte es nicht gesehen. Ich reisse mich zusammen und möchte gerade seine Entschuldigung mit dem Hinweis, es sei ja nicht viel passiert, abwehren, da sagt dieses Monster zu mir:
- Neger müssen sich HINTEN anstellen!
Ich weise ihn darauf hin, dass ich doch gar kein Neger sei, was er mit der Bemerkung wegwischt, ich könnte gerade so gut einer sein. Da ich selber nichts gegen Neger habe, und dem Ansehen der schwarzen Rasse nicht weiter schaden will, entschuldige ich mich höflich und stelle mich am hinteren Ende der Warteschlange an. Aber endlich habe ich es ohne weitere Zwischenfälle geschafft (Typ II und Typ I), das Glas mit den Erbsen muss ich natürlich bezahlen.
  Nun beginnt der anstrengende Teil des Veloshoppings, der Transport der neuen Errungenschaften nach Hause. Ich habe drei Formen von Transportproblemen analysiert, die ich als Milchtüten-, Sprudelkisten- und Plastiktütensyndrom bezeichne.

Das Milchtütensyndrom tritt beim Transport von zwölf Tüten Milch, Apfel- oder Orangensaft etc. auf. Der mitgelieferte flache Karton hält die zwölf Liter nur notdürftig zusammen. Das Problem beginnt, wenn der 40 cm lange Karton auf den nur 15 cm breiten Gepäckträger eines Fahrrades gestellt wird.

Die dabei auftretenden physikalischen Kräfte lassen sich wie folgt darstellen.

Das Milchtütensyndrom

Dabei ist F1 die Gewichtskraft der Milchtüten, F2 die Spannkraft des Kartons und F3 die Kohäsions- bzw. Haftkraft der Milchtüten untereinander.
Um einen Transport sinnvoll zu gestalten, muss jederzeit gelten:

  Gew.kraft < Spannkraft
              + Koh.kraft   (I)

Die Kartons sind tatsächlich so konstruiert, dass diese Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist. Was die Konstrukteure jedoch nicht berücksichtigt haben, ist die Tatsache, dass beim Herunterfahren von einem Bordstein, oder beim Durchqueren eines Schlagloches eine vorübergehende Beschleunigung der Milchtüten nach unten stattfindet. Da diese Beschleunigung beim Landen auf dem Grund des Schlagloches bzw. auf der Strasse abrupt gestoppt wird, multipliziert sich die Gewichtskraft der Milchtüten in diesem Augenblick mit einem Beschleunigungsfaktor b. Auf die Spannkraft und die Kohäsionskraft hat dieser Vorgang keinen Einfluss, sodass es zu einer vorübergehenden Umkehrung der Gleichgewichtsbedingung (I) kommen kann.
Es gilt dann:

  b x Gew.kraft >Spannkraft + Koh.kraft         (II)

Das Unangenehme ist, dass selbst ein kurzes Ungleichgewicht (II) ausreicht, den Pappkarton reissen zu lassen. Dies erfolgt mit einem unverwechselbaren Geräusch (phhhhs), gefolgt vom sechsmaligen Aufprallgeräusch (bfsch) der nun ungesicherten Milchtüten.
Die Spannkraft des Kartons beträgt anschliessend Null.
  Da die Kohäsionskraft alleine die Gewichtskraft nicht zu neutralisieren vermag, muss man sich eine alternative Transportmöglichkeit für die heruntergefallenen Milchtüten einfallen lassen. Das Problem, dass Milchtüten beim Aufprall platzen ergibt sich zum Glück nur selten. Auf der anderen Seite bleibt dadurch das Transportproblem in vollem Umfang bestehen.

Da ich keine Plastiktüte bei mir habe, versuche ich je einen Liter in meine rechte und linke Jackentasche zu stecken. Allerdings sind die Milchtüten zu gross (oder die Jackentaschen zu klein), ausserdem befinden sich dort bereits eine Tüte mit Wurst, eine Tüte mit Käse, eine Packung Gummibären und ein Becher Sauerrahm. Also klemme ich mir die Milchtüten unter die Arme, wobei allerdings ein Laib Brot und ein Kopfsalat herunterfallen, die sich dort befanden.
  Schliesslich stecke ich zwei Tüten Milch ins Innere meiner halbgeöffneten Jacke, vier Tüten klemme ich mir unter den linken Arm und den Laib Brot unter den rechten Arm.
Mist! Jetzt fehlt noch der Salat!
Mit mittlerer Anstrengung gelingt es mir, ihn beim Brot unterzubringen. Ich fahre freihändig, schwankend und meine acht Sachen zusammenhaltend nach Hause, wobei ich noch zweimal anhalten muss, um eine verlorene Milchtüte wieder einzusammeln.
  Daheim angekommen fällt beim Absteigen wieder alles herunter und auch die auf dem Gepäckträger verbliebenen Milchtüten orientieren sich in Richtung Boden, da sie dort ein Milchtütenfestival vermuten.
Die Hauptsache ist aber, dass ich endlich daheim bin. Meine Nachbarn haben sich an diesen Anblick auch schon seit langem gewöhnt.

Beim Sprudelkistensyndrom liegt das Problem darin, eine Sprudelkiste mit der Kantenlänge 40 cm auf der nur 15 mal 30 cm grossen Stellfläche des Gepäckträgers zu sichern.

Grafisch lässt sich der Vorgang so darstellen:

Das Sprudelkistensyndrom

Dabei ist F1 die Gewichtskraft der Sprudelkiste, F2 die Spannkraft des Spanners und F3 eine nicht quantifizierbare, beim Fahren auftretende Rüttelkraft in seitlicher Richtung.

Die maximale Stellfläche R3 mit dem Reibungskoeffizienten r3 wird dabei durch die kleineren Reibungsflächen R2 und R3 mit den Reibungskoeffizienten r2 und r3 ersetzt da erfahrungsgemäss gilt:

  Gew.kraft x r3 < Gew.kraft x r1 + Spannkraft x r2  (III)

Für den sicheren Transport der Sprudelkiste muss also jederzeit gelten:

  Rüttelkraft < Gew.kraft x r1 + Spannkraft x r2      (IV)

Diese Transportmethode hat auch den Effekt, dass der Fahrkomfort leidet. Zum einen ist ein Teil der Sitzfläche durch die überstehende Sprudelkiste versperrt, zum anderen muss die Sprudelkiste immer wieder mit mindestens einer Hand gesichert oder neu ausgerichtet werden.
  Die gleichen Bedingungen gelten im Übrigen für übergrosse Pappschachteln, die die Firma ALDI dankenswerterweise hilflosen Kunden wie mir zur Verfügung stellt, um ihre Waren sicher nach Hause zu bringen.

Das Plastiktütensyndrom umschreibt den Transportvorgang einer gefüllten, an der Lenkstange eines Fahrrades angebrachten Plastiktüte - manchmal habe ich tatsächlich eine dabei. Das Problem ist physikalisch nicht quantifizierbar, der Plastiktütenforschung sind jedoch bis heute zwei latente Sollbruchstellen bekannt. Gegen diese Mängel wird bewusst nichts unternommen, da sonst der zukünftige Absatzmarkt für Plastiktüten nicht mehr gesichert wäre:

Das Plastiktütensyndrom

Die Sollbruchstelle 1 befindet sich am Henkel der Plastiktüte, es wird vermutet, dass dieser bei einer Überlastung, schlechtem Wetter oder in ungünstigen Augenblicken zu reissen beginnt.
Die Sollbruchstelle 2 befindet sich am unteren der Plastiktüte auf der Seite, wo sie mit den Speichen des sich drehenden Rades in Berührung kommt.

Anzumerken ist noch, dass bei einseitigem Behängen der Lenkstange mit Plastiktüten das Fahrverhalten des Fahrrades schlechter wird.

  MERKSATZ:   (V)
  Plastiktüten immer gleichmässig auf beide Seiten
  des Lenkers verteilen!!!

Heute sieht es ganz nach einem kombinierten Plastiktüten- und Sprudelkistensysndrom aus. Die neu erworbenen Waren lassen sich beim besten Willen nicht im grössten zur Verfügung stehenden, ursprünglich für sechzig Packungen Salzstangen vorgesehenen Karton unterbringen. Selbst nach Abzug der Tomaten, denen die Verkäuferin durch einen gezielten Wurf mit einer Ravioli-Dose den Garaus gemacht hat, bleibt noch so viel übrig, dass ich einen Rest auf drei Plastiktüten verteilen muss.
  Ich stelle den Salzstangenkarton auf meinen Gepäckträger, wo er glücklicherweise zu bleiben scheint. Die Plastiktüten hänge ich asymmetrisch an die Lenkstange, wobei ich Merksatz (V) ignoriere, was auch gleich zur Folge hat, dass die Lenkstange aus dem Gleichgewicht gerät und einen Angriff auf meine Weichteile startet. Ich atme tief durch, besteige das Rad und fahre los. Eine Passantin fragt mich verwundert, ob ich so schwer beladen auch sicher nach Hause käme. Ich entgegne ihr mit einem überlegenen Lächeln, dass ich da schon ganz andere Sachen gedeichselt hätte.

  So fahre ich vom Parkplatz und übersehe prompt ein Auto, dass sich von rechts nähert. Dank meiner Reaktionsschnelligkeit kann ich gerade noch anhalten, vergesse dabei aber den Karton auf meinem Gepäckträger zu sichern, sodass jener diesen verlässt und zu Boden fällt. Ich stelle mein Fahrrad an den Strassenrand und begutachte den Schaden.
  Ein Glas Honig ist zu Bruch gegangen, was eine vollständige Schadensbeseitigung im Vorhinein zum Scheitern verurteilt. Immerhin wird die auf dem Boden verbleibende zähflüssige Masse bei darüberfahrenden Autorasern eine Verlangsamung hervorrufen, und so lobe ich mich innerlich für meinen selbstlosen Schutz unschuldiger Schulkinder. Die Konservendosen haben mit ihrer ursprünglichen Form nicht mehr viel gemeinsam, und schliesslich entdecke ich die Eier, die ich vorsorglich zuoberst in den Karton gelegt hatte. Durch den Sturz sind sie zuunterst geraten und ich registriere überrascht, dass nur drei Eier zu Schaden gekommen sind.

Meine Mutter, die in solchen Dingen ohnehin kleinlich ist, hat mir einmal vorgeworfen, dass man mich überhaupt nicht Eier holen zu schicken bräuchte, weil ich ohnehin keine ganzen Eier mit nach Hause brächte. Da ich im Widerlegen derartiger Vorwürfe sehr geschickt bin, habe ich ihr meine Eierkauf-Statistik vorgelegt:
  Bei 64 Eierkäufen (n=64) brachte ich im Durchschnitt sechs ganze Eier mit nach Hause. (|x| = 6). Die geschätzte Standardabweichung betrug vier (s=4). Daraus berechnete ich das Vertrauensintervall für die in 99,9 Prozent aller Fälle zu erwartende Anzahl der heil daheim ankommenden Eier (E(x)).

Laut BLEYMÜLLER gilt nämlich:

Formel für Erwartungswert



   (VI)

 

Der kritische Wert für t beträgt bei einer 99,9-prozentigen Sicherheit 3,2.
Das Ergebnis meiner Berechnungen war schliesslich, dass in 99,9 Prozent aller Fälle zwar nicht mehr als 7,6, jedoch auch nicht weniger als 4,4 heil gebliebene Eier zu erwarten waren. Meine Mutter teilte meine Freude über die mindestens zu erwartenden vier ganzen Eier nicht, obwohl das zum Panieren von fünf Schnitzeln gut ausreicht.
Wie kann man nur so kleinlich sein.

Diesmal sind jedenfalls nur drei Eier zu Bruch gegangen und die Joghurt befinden sich zum Glück sicher in den Plastiktüten an der Lenkstange. Ich sammle mein Eigentum wieder in den Karton und stelle diesen zurück auf den Gepäckträger. So fahre ich heimwärts und geniesse die Stimmung eines Cowboys, der auf seinem Pferd der Freiheit und neuen Abenteuern entgegenreitet. Da reisst mich ein verdächtiges Geräusch aus meinen Träumen. Es ist jedoch kein Heckenschütze, der mir aus dem Hinterhalt auflauert, sondern eine Plastiktüte, die in die Speichen geraten ist. Schon purzeln meine sicher geglaubten Joghurt aus dem entstandenen Schlupfloch und zu Boden.
Weit kommen sie allerdings nicht.
Zwei Joghurt platzen unmittelbar beim Aufprall auf den Boden, einem dritten (Erdbeer-Rhabarber) schneide ich mit einem geschickten Schlenker den Fluchtweg ab und erlege ihn mit dem Hinterrad. Das hätte ich besser bleiben lassen, denn nun entzieht sich der Karton auf dem Gepäckträger meiner Kontrolle und stürzt in die Tiefe.
  So stehe ich mitten auf der Kreuzung, umgeben von meinem Hab und Gut, sowie einigen herbeigeeilten Passanten, die sich den Orden RITTER DER LANDSTRASSE verdienen wollen. Als erstes nimmt mir jemand mein Fahrrad ab, um es in Sicherheit zu bringen. Andere Herbeigeeilte helfen mir beim Einsammeln meiner Sachen, wobei sich herausstellt, dass der Karton für einen Weitertransport nicht mehr geeignet ist.
  Ich versuche gerade den Hilfstrupp zu organisieren, als sich ein Einsatzwagen der Freiwilligen Feuerwehr nähert, dem zwölf mit Strahlenanzügen bekleidete Feuerwehrleute entsteigen. Diese besprühen die Joghurtflecken mit einem Spezialschaum, wohl in der Annahme, es handle sich dabei um radioaktives Material. Ich versuche gerade den Irrtum aufzuklären, da drängt sich eine Hundertschaft Polizisten durch die rasch errichteten Absperrungen um nach den Urhebern dieses offenbar politisch motivierten, terroristischen Anschlages zu fahnden. Also schweige ich lieber, hinter den Absperrungen wird eine Würstchenbude, kurz darauf auch ein Karussell aufgebaut. Drei Fernseh-Teams treffen ein und beginnen mit den Aufnahmen. Davon habe ich schon seit langem geträumt, im Moment ist mir aber nicht nach einem Fernsehauftritt.
Ich wüsste auch gar nicht, was ich sagen soll.
Ich versuche dennoch meine Haare und Gedanken zu ordnen, da werde ich durch den Ansturm hinter die Absperrung gedrängt. Dabei verspüre ich einige Hiebe von Schlagstöcke, zudem zeigt nun das Tränengas seine Wirkung, und da ich pudelnass bin, waren wohl auch Wasserwerfer im Einsatz.
  Ich betrachte die entstandene Mischung aus Rummelplatz und Startbahn-West-Demo, mittlerweile haben sich auch einige Mitglieder der Bhagwan-Sekte eingefunden, die in ihren lilafarbenen Gewändern lautstark HARE KRISHNA intonieren und so den Herrn oder das Ende der Welt preisen. Auch die Scientologen sind anwesend, sie bieten in den Trümmern des ehemaligen ALDI ihre Persönlichkeitstests an.

  Plötzlich entdecke ich ungefähr fünfzig Meter entfernt, neben einem WACHTURM haltenden Zeugen Jehovas, mein Fahrrad an einer Wand lehnen. Ich begebe mich unauffällig in diese Richtung, wobei mich niemand aufzuhalten scheint. Auch der Jehova-Jünger schaut nur wissend, sagt aber nichts, als ich auf mein Fahrrad steige und losfahre. So entkomme ich ungehindert dem Geschehen und verfolge den Rest vom Tage die Geschehnisse im Fernsehen.

Morgen kaufe ich mir einen Fahrradanhänger.